Einblicke in „Irrungen und Wirrungen“

Soeben ist Hans-Peter Fischers Buch „Okuli, da kommen sie“ bei Königshausen & Neumann erschienen

Von Bettina Schack

Dinslaken. Fragezeichen markierten den Rand von Hans-Peter Fischers Ausgabe von „Irrungen und Wirrungen“. Fragezeichen, die der Deutschlehrer neben den Text setzte, der eigentlich als kompakte, weil kürzere Alternative zu „Effie Briest“ als Schulstoff am OHG gedacht war. 1997 war das, und seitdem hat der Stoff Hans-Peter Fischer, Autor mehrerer Bücher über Theodor Fontane im Eigenverlag, nicht mehr losgelassen. Immer wieder und wieder schaute er in den Roman, auf die anspielungsreichen Worte und ebenso viel auf die vielsagenden Auslassungen dazwischen.

Hans-Peter Fischer wollte unter die so ruhig wirkende, weil so kontrolliert und sorgfältig gefeilte und polierte Oberfläche der „Irrungen und Wirrungen“ schauen, einem Roman, dessen Veröffentlichung 1888 Fontane „entgegen zitterte“, weil er ihn als brisant einschätzte. Nun sind Fischers Blicke unter die Oberfläche auf 406 Seiten im Verlag Königshausen & Neumann erschienen. „Okuli, da kommen sie“, wie der Titel „Irrungen, Wirrungen“ selbst ein Zitat aus dem Buch. Und ein Titel, der sich an Fischers zweites Fontane-Buch „Camera obscura“ anschließt.

Keine trockene Lektüre

Ein Sachbuch, aber keine trockene Lektüre. Dies ist drei Dingen zu verdanken. Zum einen Fischers Schreibstil. Oft selbst nur angerissen, assoziativ, offen für eigene Gedanken. Dann die Illustrationen, durchaus ungewöhnlich für germanistische Sekundärliteratur. Einmal mehr stammen sie von Barbara Grimm. Schwarzweiß, mit kühnem Pinselschwung, jedoch ein wenig weicher als die kantig-expressionistischen Bilder der letzten Ausstellungen. Und dann ist da natürlich der Inhalt selbst: Drei Themen dominieren in Fischers Analysen, für die er den Fontane-Text nicht nur gegen den Strich, sondern richtiggehend durchgewuschelt hat: ein Versöhnliches, ein für das ausgehende 19. Jahrhundert Skandalöses und eins für die Gegenwart Verstörendes: Märchen, Homosexualität und Antisemitismus.

Ein gängiges Schema in Drama und Romanen bis ins 19. Jahrhundert ist es, dass die Frau, die gesellschaftliche und moralische Tabus bricht, zwar Sympathien wecken kann, aber letztendlich meist mit dem Tod bestraft wird. Es gab aber vor Fontanes Lene eine Frauengestalt, deren unstandesgemäße Liebe ihr Leid, aber zum Schluss Metamorphose, nicht Tod, brachte: Die kleine Meerjungfrau. Bei Michael Maar, der Thomas Manns An- und Entlehnungen an Andersen untersuchte, stieß Fischer auf einen Hinweis auf Thomas Mann.

In „Okuli“ stellt er nicht nur verblüffende Ähnlichkeiten zwischen der Meerjungfrau und Lene mit, er zieht gleich ein Dutzend Märchen von Andersen und den Gebrüdern Grimm heran. Material für die schönsten Illustrationen von Barbara Grimm in diesem Buch.

Sexualität findet sich in „Irrungen, Wirrungen" vor allen in zweideutigen Bemerkungen. Fischer kommt immer wieder auf eine Stelle zu sprechen, in der Botho sich „verplappert“. Worüber in seinen Kreisen, sprich der Männergesellschaft des adligen Militärs so geredet würde: Botho irritiert erst durch das Erzählen von einem homosexuellen Freund, der wie ein männliches Dornröschen in einem Schloss hinter einer Hecke aus Phallussymbolen lebt und verrät dann, das sich die Kameraden untereinander „Liebesnamen“ geben, wie der Kronprinz seiner Viktoria.

Käthe wird ihm später in nichts nachstehen, sie freundet sich mit der Kurbekanntschaft Salinger an, die auffallend beginnt, sich für die neue Freundin hübsch zu machen.

Unterschwelliger Antisemitismus

Die Salinger ist jedoch auch eine der Figuren, die ein Licht auf Fontane werfen, dass alles andere als erfreulich ist: Die Zeit von Bothos aristokratischer Gesellschaft geht dem Ende entgegen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wird Geld nicht nur vom Adel gehabt, das Bürgertum macht es. Käthe, die ja eigentlich die alte Ordnung herstellen soll, entzieht sich ihr: Konsum statt Kinder. Modern klingt das, ist aber in Fontanes Ausführung verhängnisvoll. Denn während Lene, die „kleine Demokratin“ doch im sicheren Hafen der Ehe mit einem Prediger landet, also keine „Gefahr“ darstellt, sind alle Charaktere, die die Bothos eingefahrene Ordnung erschüttern können, Juden.

Ganz pauschal, ohne Ausnahme und Zwischentöne. Und der Autor hüllt sich dazu mit der eigenen Meinung in wohlweisliches Schweigen, wie Fischer herausstellt. Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert, um so gefährlicher, da er unterschwellig ist und sich in Andeutungen tarnt. Hier wird Fischer dem eigenen Anspruch, „Überraschende Einblicke“ in Schullektüre zu werfen, mehr als gerecht.

Von Barbara Grimm stammen die Illustrationen des Buches. Hier: „Dornröschen“

Die Geschichte im Roman

In „Irrungen, Wirrungen“ beschreibt Theodor Fontane die aussichtslose Liebe des adligen Militärs Botho zu dem klugen aber durch Standes- und Bildungsunterschiede getrennten Arbeitermädchens Lene und dessen Vernunftsheirat zu seiner Cousine Käthe. Damit ist die zwar alte Ordnung hergestellt, doch innerlich ausgehöhlt. Lene dagegen wird für ihre Liebe nicht moralisch abgestraft. Im Gegenteil. Sie wird einen Prediger heiraten, der die 10 Gebote für sich selbst gewichtet hat. Damit unterscheidet sich ihr Schicksal von dem eines Gretchens, einer Madame Bovary und einer Effie Briest.